Kinderwelt statt Lernfabrik

Bis 2025, so will es die Bildungspolitik von Jamaika bis GroKo, soll jedes Grundschulkind Anspruch auf einen Platz in einer Ganztagsschule haben. Ein paar grundlegende Fragen bleiben allerdings zu klären: Wie wird diese Schule aussehen? Und was bedeutet das für die Kinder und ihre Familien?

Schon jetzt ist der Trend eindeutig: Die Halbtagsschule, so wie Generationen von Kindern sie kannten, hat als Normalfall ausgedient. 2002 lernte erst eines von zehn Schulkindern in einer Ganztagsschule, 2017 waren es schon vier von zehn. Und auch die Realität der anderen heißt oft: Über-Mittag-Betreuung inklusive Essen (mehr oder minder liebevoll zubereitet), lange Fahrten im Schulbus, für ältere oft Unterricht bis tief in den Nachmittag, Hausaufgaben und womöglich Nachhilfe …

Freizeit und freie Nachmittage?

Den tollen freien Nachmittag, an dem sie sich zusammen mit ihren Freundinnen und Freunden wie in Bullerbü austoben und frei von erwachsener Kontrolle entfalten können, kennen die Schülerinnen und Schüler von heute jedenfalls nur noch aus den Erzählungen ihrer (Groß-)Eltern. Zwar gehen viele nachmittags sportlichen oder musischen Hobbys nach, die ihnen einen Ausgleich zum schulischen Stress versprechen. Aber auch in der Musikschule und im Fußballklub bleiben sie den Regeln der Erwachsenen unterworfen. Zu kurz kommt dagegen das „freie“ Spielen. Spielgefährt*en sind in vielen Nachbarschaften rar, Verkehr und Gewerbe zerstören den Freiraum zum Spielen und Erkunden von Natur und Umwelt. Der Ausweg heißt für viele: Smartphone, Fernsehen, Spielkonsole.

Mit anderen Worten: Wie die meisten Kinder heute ihre Nachmittage verbringen, entspricht ihren entwicklungspsychologischen Bedürfnissen nur ungenügend. Eine gut gemachte Ganztagsschule böte da die Chance, den Mädchen und Jungen verloren gegangene Lebens- und Entwicklungsräume zurückzugeben.

Bedürfnisse der Kinder?

Allerdings erwachen genau da die Zweifel. Denn bei dem Ruf von Politik und Wirtschaft nach mehr Ganztagsschulen spielten die Bedürfnisse der Kinder bisher eine untergeordnete Rolle. Die Ziele hießen vor allem: Wir brauchen bessere Ergebnisse bei internationalen Bildungsvergleichen (wie PISA)! Wir müssen die „Bildungsreserven“ von Kindern aus „bildungsfernen“ Familien besser ausschöpfen! (Sonst fehlt der Wirtschaft qualifizierter Nachwuchs.) Wir müssen die Vereinbarkeit von Familie und Beruf erleichtern! Höchste Zeit also, den Scheinwerfer neu auszurichten: Wie muss eigentlich eine Ganztagsschule aussehen, in der sich die Schülerinnen und Schüler wohlfühlen und optimal entwickeln können?

Worauf sollte geachtet werden?

Vorschläge dazu haben Pädagog*en zur Genüge gesammelt und auch praktisch erprobt. Einen breiten Fundus an Anregungen liefern zum Beispiel Schulen, die in den vergangenen Jahren mit dem „Deutschen Schulpreis“ ausgezeichnet wurden (http://schulpreis.bosch-stiftung.de/ content/language1/html/index.asp). Die wichtigsten Erkenntnisse:

  • Kinder sind mehr als Schüler*. Je mehr Zeit sie in der Schule verbringen und die Schule sich zu ihrer zweiten Lebenswelt neben der Familie entwickelt, desto mehr müssen sie sich dort angenommen, wertgeschätzt und ermutigt fühlen – mit einem Wort: zu Hause. Das erfordert ein Selbstverständnis der Lehrer*, das weit über das „Unterrichten“ hinausgeht, und eine Zusammenarbeit mit anderen pädagogischen Kräften (z. B. Sozialpädagog*en).
  • Stärken stärken, an Schwächen arbeiten. Die persönliche Wertschätzung aller Kinder setzt einen individuellen Umgang mit ihren jeweiligen Stärken und Schwächen voraus. Gute Ganztagsschulen arbeiten deshalb nach einem pädagogischen Konzept, das Kinder beim Lernen in ihrem je eigenen Tempo unterstützt.
  • Selbstbestimmt lernen macht schlauer. Der stärkste Motor zu lernen ist das eigene Interesse. Eine entwicklungsgerechte Schule setzt deshalb auf die Arbeit mit Projekten und kleinen Gruppen und ermöglicht Kindern, ihre Lernziele und ihr Lerntempo selbst mitzubestimmen. Und sie hält viele Angebote zum eigenständigen Lernen bereit: Bücher, Zeitschriften und DVDs zum Ausleihen, Computer-Arbeitsplätze, Leih-Instrumente …
  • Partner „von draußen“ machen die Schule reicher. Vieles, was sie „fürs Leben“ brauchen, lernen Kinder, wenn überhaupt, außerhalb der Schule – und es interessiert sie oft viel mehr als manche Unterrichtsstoffe: ein Fahrrad reparieren, kochen, Erste Hilfe leisten, Musikinstrumente spielen, Tiere halten … Gut deshalb, wenn die Schule Könner* „aus dem normalen Leben“ hereinholt und / oder Ausflüge und Praktika in die Natur, Werkstätten und Ateliers vermittelt. Und wenn sie ihre Nachmittags-Pläne so flexibel hält, dass ihre Schüler* umgekehrt auch Lernchancen draußen wahrnehmen können: bei den Pfadfindern, Umweltgruppen, in Musikschulen, Museen, Sportvereinen …
  • Kinder brauchen Kinder. Vor allem Grundschüler* gehen gern zur Schule. Selbst wenn der Unterricht sie manchmal langweilt – Hauptsache, sie treffen dort andere Kinder! Der Stundenplan lässt den Mädchen und Jungen deshalb über die traditionellen Pausen hinaus viel Zeit, sich ohne Vorgaben von Erwachsenen miteinander zu beschäftigen. Zusammensein, Auseinandersetzung und Vergleich mit anderen Kindern, einschließlich gelegentlicher Erfahrungen von Niederlagen und Verletzung, sind für die Entwicklung sozialer Kompetenzen unverzichtbar; umgekehrt fördern Freundschaft, Anerkennung und Vertrauen von Gleichaltrigen das seelische Wohlbefinden im Schulalter mindestens genauso nachhaltig wie eine akzeptierende, unterstützende und vertrauensvolle Beziehung zu Erwachsenen. Und: Ältere Kinder sind für jüngere oft die besten Lehrer!
  • Lernen im Takt der inneren Uhr. Die Lern- und Leistungsbereitschaft von Kindern unterliegt individuellen und alterstypischen Biorhythmen. Eine „gleitende“ Anfangsphase am Morgen, Pausen und ein Mittagessen in entspannter Atmosphäre, dass Kinder nicht als „Abfütterung“ empfinden, tragen dieser Einsicht Rechnung. Dazu gehört auch eine entsprechende Ausstattung der Schule mit Spielräumen und -materialien, aber auch mit „stillen“ Räumen für Kinder, die sich lieber zurückziehen möchten.
  • Mens sana in corpore sano. Wann immer Kinder nach Vorstellungen zur Verbesserung der Schule gefragt werden, steht der Wunsch nach mehr Bewegung und Sport an erster Stelle. Aus gutem Grund: Rennen, Springen und Tanzen dient nicht nur dem Austoben, es bringt auch die Hirnzellen auf Trab. Über die lernplanmäßigen Sportstunden hinaus brauchen Ganztagsschüler* deshalb drinnen wie draußen viel Platz sowie Spiel- und Sportgeräte, an denen sie ihre Kräfte und ihre Geschicklichkeit erproben können.
  • Hausaufgaben waren gestern. Üben, Wiederholen und Anwenden spielen im Lernprozess eine unverzichtbare Rolle. Statt diese Aufgaben bei Eltern abzuladen, bauen gute Ganztagsschulen deshalb entsprechende Phasen in ihre Unterrichtspläne ein. Nach einem Acht-(und mehr-) Stunden-Arbeitstag gilt deshalb auch hier: Feierabend!

Denn: Erst wenn die Schule die entwicklungsbedingten Bedürfnisse von Kindern altersgerecht berücksichtigt, können sie dort richtig gut lernen!